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Dimensionen des Musizierens – Ein Modell

 

von Andreas Doerne

 

 

Für mich ist eine der schönsten und erstaunlichsten Eigenschaften des Musizierens, dass es ausnahmslos alle Potentiale und Fähigkeiten des musizierenden Menschen fordert und fördert, dass es so eng mit dem Menschsein, mit der conditio humana verknüpft ist. Wir können uns – vollständig wie sonst kaum – in die Tätigkeit des Musizierens versenken, vorausgesetzt wir begreifen sie als etwas Umfassendes.

 

Aus dieser Beobachtung ergibt sich folgendes Modell einer systemischen Struktur aufeinander bezogener und miteinander interagierender Dimensionen, die sowohl als menschliche wie auch musizierbezogene Dimensionen in Erscheinung treten. Dieses Modell stellt eine mögliche Antwort auf die Frage dar, was das Musizieren eigentlich ist:

 

 

 

Körperliche Dimension

Durch die instrumentalen Spielbewegungen, das gestische Potenzial musikalischer Elemente und das mimetische Moment im Mit- und Nachvollzug musikalischer Verläufe ist Musizieren immer eine Verkörperung von Musik. Für ein umfassendes Musizieren ist es wichtig, den Körper als eine Einheit aus physischem und erlebtem Körper zu betrachten. Anzustreben ist ein instrumentaler Bewegungsvollzug, bei dem alle Glieder und Bereiche des Körpers sowohl in ihrer funktionalen als auch in ihrer empfindungsmäßigen Qualität berücksichtigt werden. Der Körper muss in seiner Gesamtheit an der Spielbewegung beteiligt sein, wobei die nicht unmittelbar beteiligten Glieder durch eine permanente Bewegungsbereitschaft die aktiven Glieder unterstützen und so zu einer ganzkörperlichen Spielbewegungskultur beitragen.

 

Emotionale Dimension

Emotionalität beim Musizieren gliedert sich in vier Bereiche: die in der Musik enthaltene Emotionalität, die momentane emotionale Grundverfassung des Musikers, die beim Spielen einer Musik konkret zu Tage tretende Emotionalität sowie die emotionale Reaktion des Musikers darauf. Ein Pendant zum Prinzip mimetischen Mit- und Nachvollziehens von Musik über den Körper ist die Haltung der Empathie, das emotionale Hineinversetzen in die Musik sowie das Bewusstmachen eigener, durch die Musik hervorgerufener Gefühle. Das (zeitversetzte) Erleben jener Emotionen, die im eigenen Spiel zur Darstellung gelangen sollen, intensiviert den musikalischen Ausdruck und sorgt für Authentizität des klanglichen Resultats. Unter dem Gesichtspunkt der bewusst herbeigeführten Identifikation mit bestimmten emotionalen Zuständen birgt das Musizieren auch ein therapeutisches Potenzial in sich.

 

Kognitive Dimension

Kognitive Prozesse spielen beim Musizieren eine zentrale Rolle. Sie ermöglichen die Generierung musikalischen Sinns, koordinieren die Handlungsplanung und -ausführung, erlauben die Auswertung des Klangergebnisses, stellen für den Spielprozess notwendiges prozedurales und deklaratives Wissen bereit, steuern die Aufmerksamkeit und evozieren Erinnerung. Eine das Spielgeschehen vorausnehmende Vorstellung hinsichtlich der notwendigen instrumentalen Spielbewegungen und des gewünschten Klangergebnisses wäre ohne Kognition nicht denkbar. Ein wichtiges Resultat kognitiver Prozesse ist Erkenntnis. Im Zusammenhang mit dem Musizieren tritt sie in zweierlei Hinsicht auf: zum einen als Erkenntnis der Sache, zum anderen als Selbsterkenntnis. Erkenntnis in einem umfassenden Sinne ist immer multiperspektivisch. Sie vermeidet Einseitigkeit, indem sie die Ich-, die Wir- und die Es-Perspektive integrativ zusammenführt.

 

Wahrnehmungsbezogene Dimension

Die zum Musizieren relevanten Wahrnehmungsarten sind Hören, Sehen und Fühlen. Da sich Wahrnehmung zum einen auf reale Gegebenheiten, zum anderen auf Phänomene der eigenen Vorstellung beziehen kann, gliedert sie sich in sechs Modi: der nach außen gerichteten auditiven, visuellen und taktilen Wahrnehmung sowie der nach innen gerichteten auditiven, visuellen und kinästhetischen Wahrnehmung. Die für ein umfassendes Musizieren notwendige integrale Wahrnehmung verknüpft diese sechs Modi miteinander und setzt sie in ein ausgewogenes Verhältnis. Die beiden Wahrnehmungskategorien von aktiv-ergreifender Wahrnehmung und passiv-aufnehmendem Gewahrseins bilden ihre zwei Pole. Vier Wahrnehmungsparameter bestimmen die Qualität eines Wahrnehmungsaktes: Klarheit, Weite, Reinheit und Intensität.

 

Spirituelle Dimension

Basis einer spirituellen Dimension des Musizierens ist die Erfahrung von Transzendenz im Sinne einer qualitativen Erweiterung des Ich-Bewusstseins hin zu transpersonalen Zuständen. Benennen lässt sich eine solche Erfahrung beim Musizieren mit der Formel Es spielt. Sie ist gekennzeichnet durch eine meditative Geisteshaltung, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und das Zulassen psychischer und körperlicher Selbstorganisationsprozesse. Ihr Kern ist der Eindruck, anstatt selbst zu spielen, von der Musik und dem Instrument gespielt zu werden.

 

Kommunikative Dimension

Musizieren bedeutet Kommunizieren. Als Kommunikationspartner lassen sich nicht nur ausführender Musiker und Zuhörer, sondern auch die Musik und das Instrument benennen. Das mikroskopische Kommunikationssetting Musik-Musiker-Instrument ist in makroskopischen Kommunikationssettings wie beispielsweise einem symphonischen Orchester oder einem Ensemble enthalten. Makroskopische Settings beinhalten zusätzlich den Aspekt der interpersonellen Kommunikation. Musikalische Kommunikation vollzieht sich weitestgehend nonverbal über Mimik und Gestik und ist im Idealfall dialogisch, d. h. zwischen den Kommunikationspartnern herrscht ein Gleichgewicht bezüglich des Sendens und Empfangens von Information. In dem Maße, wie sich der Austausch als eine Begegnung von einem Ich zu einem Du darstellt, erschließt sich die Welt des Kommunikationspartners nicht nur auf eine partielle, sondern auf eine umfassende Weise.

 

Geschichtliche Dimension

Musik als geschichtliches Artefakt verlangt nach einem kunst- und gesellschaftshistorisch bewussten Umgang. Politische Umstände, die persönliche Lebenssituation des Komponisten und die bauliche Entwicklung des Instruments können für die musikalische Interpretation eine bedeutende Rolle spielen. Beim Musizieren gerät zusätzlich das biografische Gewordensein des Musizierenden in den Blickpunkt. Die aktive Beschäftigung mit Musik stellt eine Möglichkeit dar, Geschichte lebendig werden zu lassen, weil sie Vergangenes in die Gegenwart holt und historisch objektive Fakten subjektiv erfahrbar werden lässt. Eine solche Auseinandersetzung mit Geschichte umfasst neben Vergangenem auch Gegenwärtiges und Zukünftiges. Aus der Beachtung und Einbeziehung aller neun Stränge geschichtlicher Betrachtung setzt sich die geschichtliche Dimension umfassenden Musizierens zusammen.

 

Modale Dimension

Musik kann auf drei verschiedene Arten hervorgebracht werden: durch Interpretation, Improvisation und Komposition. Der Modus des Komponierens unterscheidet sich von den anderen beiden Modi dadurch, dass es bei ihm nicht primär um die Verklanglichung von Musik geht. Gleichwohl ist das Komponieren sowohl im Interpretieren als auch im Improvisieren enthalten und umfasst seinerseits Elemente dieser beiden anderen Modi. Alle drei Modi durchdringen und beeinflussen sich wechselseitig und lassen erst in ihrem Zusammenspiel ein umfassendes Musizieren entstehen.

 

Die Einheit des Musizierens

Die Tätigkeit des Musizierens ist kein Haufen vieler unzusammenhängender Einzelteile, sondern eine Einheit, die auf unzähligen Querverbindungen und gegenseitigen Verknüpfungen seiner Teile basiert. Um diese Qualität zu verdeutlichen, ist eine systemische Sichtweise erforderlich. Die interne Organisationsform des Systems des Musizierens ist hierarchisch und entspricht der eines Holons, das heißt sie besteht aus einer potenziell unbegrenzten Ineinanderkettung von Teilen und Ganzen, wobei je nach Blickwinkel ein Teil für sich genommen auch ein Ganzes repräsentiert und jedes Ganze in einem ihm übergeordneten Zusammenhang ein Teil darstellt. Je nach musikalischem und spieltechnischem Zusammenhang fluktuiert die systeminterne Hierarchiestruktur, wobei vor allem Selbstorganisations­prozesse zum Tragen kommen.