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Musikschule als Simulation eines musikalischen Elternhauses konzipieren

 

von Andreas Doerne

 

In autobiografischen Texten oder Interviews von Musikerinnen und Musikern taucht ein Sachverhalt häufig auf, der von den Protagonisten meist nur kurz am Rande erwähnt und trotzdem als enorm prägend und förderlich für die eigene Entwicklung zum Musiker herausgestellt wird: Viele von ihnen sind in einem sogenannten „musikalischen Elternhaus“ groß geworden. Das bedeutet, dass das eigene Musizieren der Eltern und Geschwister, zuweilen auch der Großeltern, so selbstverständlich zum Familienalltag gehört wie das Wohnen unterm selben Dach, wie gemeinsame Mahlzeiten, gemeinsame Fernsehabende, gemeinsame Gespräche, Freizeitunternehmungen. Im eigenen musikalischen Elternhaus ist man oft von Musik umgeben, sowohl live gespielt als auch von Tonträgern. Jederzeit besteht die Möglichkeit, ein anderes Familienmitglied beim Musizieren zu beobachten, ihm zuzuhören, sich von ihm etwas abzuschauen oder umgekehrt etwas beizubringen. Das damit einhergehende Nebenbeihören und unbeabsichtigte In-Kontakt-Kommen mit Lieblingsmusik(en) nahestehender Menschen, zu denen man eine tiefe emotionale Bindung verspürt und dessen Liebe zu einer bestimmten Musik sich aufgrund dieser Bindung quasi automatisch überträgt, baut schon früh ein auch emotional konnotiertes Hörrepertoire im Kopf auf. Drüber hinaus gehören Konzertbesuche zum Stamminventar möglicher Familienaktivitäten.

 

Diese Verbindung von alltäglicher Lebenswelt und musikalischer Lernwelt innerhalb eines musikalischen Elternhauses finde ich faszinierend, weil sie als potentieller Booster für die musik- und musizierbezogene Sozialisation von unschätzbarem Wert ist und dies für viele Musikerinnen und Musiker offenbar auch tatsächlich war. Als exemplarisches Beispiel sei hier ein Ausschnitt aus einem aktuellen Interview mit der Geigerin Anne-Sophie Mutter und dem Cellisten Maximilian Hornung angeführt:

 

Maximilian Hornung: Ich stamme aus einer Musikerfamilie, mein Vater ist Geiger, Konzertmeister in Augsburg im Orchester und meine Mutter ist auch musikbegeistert. Es waren immer Musiker im Haus, es wurde immer geprobt, gespielt. Musik hat zum Leben gehört wie Essen, Schlafen, Lesen. Es war ein ganz normaler Teil der Gemeinbildung. Da war es später auch ganz selbstverständlich, dass ich ein Instrument lerne. Das war erst Geige, dann ein bisschen Horn, dann Klavier, und als ich acht war, kam das Cello dazu. Ich würde mich heute, wenn ich das gleiche Umfeld hätte, wieder so entscheiden.

 

Anne Sophie Mutter: Das Umfeld ist natürlich ganz entscheidend. Ich bin der erste Musiker in meiner Familie, aber das Umfeld war sehr musikaffin. Meine Eltern haben immer klassische Musik gehört. Also selbst in einer Umgebung, in der Musik nicht praktiziert wird, genügt es eigentlich schon, wenn sie einfach da ist. Jazz, Klassik - wie soll ein Kind überhaupt rausfinden, dass diese Dinge existieren, wenn Eltern damit keinen Umgang pflegen? [1]

 

Aus einer anderen Perspektive heraus mag das Vorhaben, eine Bildungsinstitution als Elternhausersatz zu denken, zunächst befremden. Schließlich ist genau dies ein aktuelles Problem allgemeinbildender Schulen: Sie müssen, meist gezwungenermaßen, vermehrt Erziehungsaufgaben der Eltern übernehmen, für die die Institution Schule eigentlich nicht gemacht ist. Schule als Elternhausersatz zu konzipieren klingt für viele Lehrer daher eher nach einer veritablen Drohung, denn nach Verheißung. Auf Seiten der Eltern kann ein solches Vorhaben zudem ebenfalls verständliche Abwehrreflexe auslösen, weil Eltern sich aufgrund der zunehmenden zeitlichen Einvernahme Ihrer Kinder durch die Schule (Stichwort: Ganztagsschule) um wertvolle gemeinsame Zeit mit ihrem Nachwuchs gebracht sehen. Der Staat mische sich auf übergriffige Art und Weise ins Privatleben von Familien ein, so der Eindruck. Darüber hinaus ist eine weitere offene Frage, ob die Lernenden selbst überhaupt eine Schule wollen, die für sich den Anspruch erhebt, eine elterliche Lebenswelt zu ersetzen. Einer Welt, der zu entwachsen sie gerade trachten, beziehungsweise der sie bereits vor vielen Jahren erfolgreich entwachsen sind. In unserem Fall – also der Bildungsinstitution Musikschule – ist die Lage jedoch eine andere:

  • Anders als die allgemeinbildende staatliche Schule ist eine Musikschule keine Zwangsanstalt. Sie ist ein Ort, der freiwillig aufgesucht und jederzeit wieder verlassen werden kann. Entschließt man sich dazu, niemals im Leben eine Musikschule zu besuchen, oder ignoriert man ihre Bildungsangebote einfach vollständig, hat dies keinerlei negative Konsequenzen.
  • Musikschulen stellen keine Abschlusszeugnisse und Übertrittsbescheinigungen aus, die als Zertifikate gleich einer personalisierten Eintrittskarte für den weiteren Gang im Bildungssystem unabdingbar sind bzw. für irgendetwas Weiterführendes zu gebrauchen wären.
  • In einer modernen Musikschule geht es nicht nur um Kinder und Jugendliche, sondern um Menschen aller Lebensalter und Lebenslagen: Auszubildende, Studenten, Berufstätige aller Berufsgruppen, Rentner, Greise, Mütter und Väter, Arbeitslose und Flüchtlinge. Daher steht nicht vorrangig das Thema Erziehung im Mittelpunkt, sondern die Frage nach bestmöglicher Förderung individueller Bildungswünsche aller Altersgruppen sowie einem (guten) Zusammenleben und -lernen ganz allgemein.

Mir geht es bei der Idee, Musikschule als Simulation eines musikalischen Elternhauses zu konzipieren, daher weniger um die Wichtigkeit eines ungezwungenen Kontaktes zur Musik schon in frühen Jahren der Kindheit (das ist für mich ein anderes wichtiges Thema), als vielmehr darum, die konstitutiven Elemente eines musikalischen Elternhauses zu identifizieren, sie gedanklich aus ihrem Kontext herauszulösen und zu überlegen, ob und welche Möglichkeiten es gibt, sie in identischer oder leicht abgeänderter Form für das Musizierenlernen an einer Musikschule nutzbar zu machen. Und zwar so nutzbar zu machen, dass sie unabhängig vom Lebensalter für jede Lernende und jeden Lernenden von Vorteil sind. Das Ziel dabei lässt sich vielleicht so definieren, eine maximal anregende Lernumgebung zu schaffen, die, gleich einer fruchtbaren Erde für das Gedeihen von Pflanzen, einen idealen Nährboden bietet für informelles musikalisches Lernen, eigenständige musizierbezogene Bildungsprozesse und eine umfassende musikalische Sozialisation. Ein Nährboden, der genauso auch ein musiksozialisatorisches „Nach-Nähren“ für all jene Menschen ermöglicht, die dem Kindes- und Jugendalter bereits entwachsen sind, in diesen vergangenen Jahren aber nur wenig musikalische Anregung erhalten haben.

 

Welche Elemente also kennzeichnen ein musikalisches Elternhaus?

 

Zunächst einmal ist das musikalische Elternhaus ein Lebensraum. Es handelt sich also nicht um einen einseitig funktionalen Ort, sondern um einen Raum, der auf vielfältige Art und Weise be–lebt werden kann, in dem im Optimalfall jeder so sein darf, wie er ist, und jeder das machen kann, was er oder sie will (natürlich nur so lange man mit seinem Sosein und seiner Handlungsfreiheit nicht das Sosein oder die Handlungsfreiheit der Anderen einschränkt). Nichts muss, aber alles kann! Diese mit einem Lebensraum einhergehende Gestaltungsfreiheit aller Beteiligten bewirkt, dass regelmäßig unvorhergesehene Dinge passieren, die eine permanente Dynamik von Veränderung der involvierten Menschen befördern. Es kommt zu Überraschungen, die einerseits bereichernd sind, die aber auch eine unbequeme Herausforderung darstellen können. In jedem Fall trägt ein intelligent gestalteter Lebensraum mit seiner Vielfalt an Möglichkeiten – und mit intelligent meine ich hier Ausmaß und Qualität von Offenheit – quasi von selbst zur menschlichen und künstlerischen Entwicklung aller Beteiligten bei. Einen Lebensraum zu bewohnen bedeutet also, einen Platz zu haben, wo man sich selber frei entfalten kann, wo man durch das eigene Sosein auf andere einwirkt, und die autonome Entfaltungsfreiheit der Anderen wiederum auf einen selbst zurückwirkt und einen verändert.

 

In einem solchen häuslichen Lebensraum leben mindestens zwei, vielleicht sogar drei Generationen zusammen und tauschen sich aus. Der Interaktionsraum ist also ein intergenerationeller und es findet natürlicherweise ein intergenerationelles (Voneinander)Lernen statt. Zudem ist der altersmäßige Abstand innerhalb einer Generation (beispielsweise zu den Geschwistern) biologisch bedingt nicht zu eliminieren und daher immer von größeren Unterschieden geprägt als in einer Gruppe von Gleichaltrigen wie beispielsweise einer Schulklasse. Jüngere Geschwister können von ihren älteren Brüdern oder Schwestern Dinge lernen, die sie von Gleichaltrigen nicht mitbekommen würden. Sie haben in ihnen permanent potentielle zukünftige Modelle von sich selbst vor Augen, an denen sie sich orientieren oder von denen sie sich bewusst abgrenzen können, indem sie gezielt nach dem Eigenen der Persönlichkeit sowie eigenen Lerninteressen suchen und dieses Eigene ausbauen. Ältere Geschwister profitieren ebenso vom Kontakt mit jüngeren Geschwistern, weil sie häufig als eine Art Mentor für sie fungieren, ihnen zuweilen bewusst Dinge beibringen wollen oder müssen, und somit schon früh Bekanntschaft mit einer Art „Lehrerrolle“ machen. Wenn man jüngere Geschwister hat, übt man – ob man will oder nicht –, eine Teilverantwortung für andere Menschen zu übernehmen.

 

Im Lebensraum Elternhaus stehen normalerweise Türen offen, im realen wie im übertragenen Sinne. Sind sie doch einmal zu, haben sie meist keinen übermäßig ausschließenden Charakter, sondern eher die Funktion eines zwar raumtrennenden, aber doch durchscheinenden japanischen Paravents. Nur wenn eine Tür per Schlüssel abgeschlossen wird, ist das Signal klar: „Ich, der Abschließende, dulde momentan niemanden in meinem Raum.“ Diese Form offener Kontaktverweigerung ist jedoch eher Ausnahme als Regel. Im Vergleich zu Räumen in öffentlichen Einrichtungen wie Schulen ist der Gang in einen Nachbarraum, um Kontakt mit dem sich dort befindlichen Menschen aufzunehmen, im Elternhaus trotzdem deutlich niederschwelliger angelegt: Man traut sich eher, Zimmer einfach zu betreten oder ohne schlechtes Gewissen an einer geschlossenen Tür anzuklopfen.

 

Dieses Prinzip der offenen Türen bewirkt zweierlei: Erstens finden künstlerische Entstehungsprozesse öffentlich statt (beispielsweise das sich klanglich und spieltechnisch vorantastende Erarbeiten einer spannenden Interpretation oder die im Laufe einer Probe zunehmend intensiver werdende kammermusikalische Kommunikation eines kleinen Ensembles). Man kann jederzeit hinter die Kulissen von künstlerischen Vorgängen des Suchens, Ausprobierens, Wieder-Verwerfens und allmählichen Findens schauen und lernt, indem man das Lernen anderer als Beobachter verfolgt. Und zweitens gleicht die Arbeitsatmosphäre eher jener eines Gemeinschaftsateliers bildender Künstler als dem Prinzip schalltechnisch und visuell voneinander isolierter Übezellen von Musikern: Jeder Beteiligte arbeitet zwar für sich, ist aber immer eingebunden und aufgehoben im sozialen Kontext einer Gruppe aus parallel im selben Raum künstlerisch Tätigen. Selbst wenn nicht alle Ateliernutzer zur selben Zeit arbeiten und also nicht gleichzeitig in persona im Atelier anwesend sind, hat man doch immer die noch unvollendeten Werke aller Anderen vor Augen und kann ihre allmähliche Verfertigung über die Zeit hinweg verfolgen.

 

Ein weiterer Aspekt ist ebenso spannend: In einem musikalischen Elternhaus wird nicht nur viel Livemusik gespielt, sondern es gibt ebenso eine Menge musikalischer Medien, die 24 Stunden am Tag zur freien Verfügung stehen. CDs, Bücher, Noten und Filme – ein musikaffines Elternhaus gleicht fast einer gut sortierten städtischen Musikbibliothek. Noch vor 20 Jahren war die Plattensammlung bzw. der CD-Fundus der eigenen Eltern von immenser Wichtigkeit für die Ausbildung eines Hörrepertoires und musikalischer Vorlieben. In heutigen Zeiten des Internets und einer damit einhergehenden permanenten Verfügbarkeit von Musik über Video- oder Audio-Streamingportale ist die Bedeutung häuslicher Tonträgersammlungen zwar gesunken, aber doch nicht obsolet geworden. Denn es geht immer auch um den persönlichen Bezug zu persönlichen Vorlieben von einem nahestehenden Menschen. Ob das eine reale Tonträgersammlung oder eine sorgfältig zusammengestellte Spotify-Playlist ist, macht keinen großen Unterschied.

 

Einen großen Unterschied macht jedoch die niederschwellige Verfügbarkeit einer andere Art von musikalischen Medien innerhalb eines musikalischen Elternhauses, nämlich den dort vorhandenen Instrumenten. Jederzeit offen zugängliche Instrumente, die immer mal wieder ausprobiert werden können, sind eine überaus förderliche Voraussetzung dafür, dass Menschen „ihr“ Instrument, ihre Instrumentenliebe finden, der sie sich dann ein Leben lang mit Freude und Ausdauer widmen.

 

Besteht in einem musikaffinen Elternhaus noch eine vitale Hausmusikkultur – egal ob es sich dabei um Volks-, Kunst- oder Popmusik handelt – kommt noch ein weiterer Aspekt ins Spiel, nämlich das gemeinsame Musizieren in leistungsheterogenen Gruppen. Bei einem solchen Musizieren besteht die Herausforderung darin, alle vor Ort befindlichen Menschen mit ihren jeweiligen Instrumenten und ihrem aktuellen instrumentaltechnischen Fertigkeitsstand einzubinden, jenseits leistungsstandbezogener Selektion gemeinsam miteinander zu musizieren. In einem solchen Setting werden einzelne Stimmen von einem Instrument auf ein anderes transponiert, umarrangiert oder entsprechend dem Kenntnisstand eines Spielers didaktisch reduziert oder erweitert. Jeder trägt so mit seinem aktuellen Können zum Gelingen einer gemeinsamen Musiziererfahrung bei, auch wenn er noch Anfänger ist und erst zwei oder drei Töne zu spielen in der Lage ist. Improvisieren und Komponieren kommen als selbstverständliche Aspekte zum Interpretieren hinzu, ja alle drei Modi des Musizierens bilden eine Einheit und lassen ein spontanes, „musikantisches“ Musizieren im besten Sinne entstehen.

 

Knapp zusammengefasst lassen sich folgende Merkmale eines guten Elternhauses benennen und vielleicht auf das Musizierenlernen übertragen!?:

  1. Lebensraum
  2. Intergenerationelles Lernen
  3. Offene Türen
  4. Gemeinschaftsatelierartige Arbeitssituationen
  5. Künstlerische Entstehungsprozesse sind öffentlich
  6. Medien zur freien Verfügung
  7. Offen zugängliche Instrumente
  8. Gemeinsames Musizieren in leistungsheterogenen Gruppen

 

[1] Rita Argauer, Christian Krügel: "Abgerutscht in eine elitäre Ecke", Süddeutsche Zeitung vom 13. November 2015. Online hier zu finden.