Diesen Beitrag teilen:
Reflexion: Schwellen
von Stefan Goeritz
Man hat mir gesagt, ich solle dich abholen. Abholen, da wo du gerade stehst. Oder sitzt oder liegst. Leider kann ich dich nicht abholen, kenne nicht einmal genau deine Adresse. Ich selbst wohne im Elfenbeinturm und bleibe hier, weil ich im Moment etwas pleite bin und keinen Chauffeur habe.
Ich solle mein Haus mit einer niedrigen Schwelle bauen, sagt man. Man spricht von „niederschwelligen Angeboten.“ Leider ist mein Angebot an dich nicht niederschwellig. Mein Angebot an dich ist skandalös hochschwellig, denn meine Schwelle ist genauso hoch wie deine. Und ich werde dich nicht darüber tragen, wir haben ja schließlich nicht geheiratet, oder? Und ich will dich auch nicht in mein Haus locken, um dich dann „erziehen“ zu können. Ich bin ja schließlich nicht dein Vater, oder?
Ich werde dich nicht abholen. Falls du es doch noch schaffst, mich zu besuchen, freue ich mich sehr, doch habe ich große Zweifel. Der Weg zu mir ist kurz, aber sehr beschwerlich. Es stehen so viele Leute vor deiner Tür, dicht gedrängt, um dich abzuholen. Sie wollen dir das Sprechen beibringen und das Jonglieren, das Reiten, das Basteln, das Klettern, Schwimmen, Fußballspielen, soziale Kompetenzen, motorische Kompetenzen, Lesekompetenz, Medienkompetenz, Lernkompetenz, Naturwissenschaft, Technik, Religion. Alle stehen sie da mit ihren niederschwelligen Horizonten, stehen vor deiner Schwelle und versuchen sie niederzureißen, sie darf ja nicht höher sein als ihre sonst kommst du doch noch ins Stolpern! Denn im Grunde ist doch allen klar, dass du alleine den Weg nicht findest. Also wirst du abgeholt, wo du gerade bist. Sobald du die Türe öffnest wird dir unter die Arme gegriffen und man führt dich deiner gerechten Bildung zu. Umfassend, ganzheitlich.
Wenn du beschließt, lieber zu Hause zu bleiben, wird deine Tür einfach aufgebrochen. Dann bist du sowieso nicht mehr zu Hause, du wurdest ja bereits abgeholt, das nennt sich Schulpflicht, wo kommen wir sonst hin? Lebe wohl! Wo also soll ich dich abholen?
Wahrscheinlich werden wir uns nicht kennen lernen. Auch ich sollte besser zu Hause bleiben. Falls mal jemand klingelt.
Aber vielleicht bist du mutig und stark. Vielleicht bist du entkommen, durchgekommen und schlenderst nun, glücklich über deine Freiheit, durch die Straßen. In
deinem leichten Gepäck trägst du die Verantwortung für deine Bildung, für deine Musik. Also noch einmal: Wenn du mich besuchen möchtest, erkennst du mein Haus an seiner hohen Schwelle. Darauf
liegt ein Fußabstreifer mit dem Aufdruck Herzlich Willkommen. Auf dem Klingelschild steht Haus des Musizierens. Bring dein Gepäck mit und behalte es. Mein Haus ist dein Haus.
Unser Butler wird dir öffnen.