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Musizieren(lernen) und Freiheit

 

von Andreas Doerne

 

 

Es ist in der Tat ein Wunder, dass die modernen Methoden der Ausbildung die heilige Neugier des Forschens noch nicht völlig erstickt haben, denn diese zarte kleine Pflanze bedarf – neben dem Ansporn – hauptsächlich der Freiheit; ohne diese geht sie ohne Zweifel zugrunde.

(Albert Einstein)

 

 

Für mich bildet Freiheit die Schnittmenge zwischen den beiden Kernbereichen von Musikschularbeit: Sie ist sowohl für die Welt der Kunst als auch für Bildungsprozesse jeglicher Art von elementarer Bedeutung. Ohne Freiheit können Menschen sich nicht in eigenständigen Bildungsprozessen zu mündigen, selbstverantwortlichen Individuen entwickeln. Ohne Freiheit gäbe es keine Kunst jenseits von Tradition, Überlieferung und kulturellem Erbe, keine künstlerische Innovation, die – zumindest im westlich-abendländischen Kulturbereich – als wichtigster Motor für den nach wie vor wachsenden Reichtum an unterschiedlichsten künstlerischen Ausdrucksformen, Werken und Hervorbringungen angesehen werden muss.

 

Kunst braucht Freiheit

Ein wichtiges Element jeder bedeutenden Kunst ist es, dass sich in ihr die Eigenheit, das Individuelle der Künstlerin manifestiert. Bedeutende Kunst ist immer unverwechselbar. Und jede bedeutende Künstlerin hat so etwas wie eine eigene Sprache entwickelt, die ihr Schaffen vom Schaffen eines anderen Künstlers unterscheidbar und es als ihr Schaffen überhaupt erst erkennbar macht. Hat man sich mit dem Individualstil einer bestimmten Künstlerin ausführlicher beschäftigt, kann man unbekannte Werke von ihr problemlos auf den ersten Blick erkennen. Bei Musik reichen dafür manchmal wenige Sekunden, um entweder ein Stück als das Stück XY oder – falls unbekannt – die Urheberin mit ihrer unverwechselbaren kompositorischen Handschrift herauszuhören. Etwas ähnliches gilt auch für bedeutende Interpreten, die unter anderem deswegen bedeutend sind, weil sie ihre ureigene Spielweise, ihren eigenen Sound entwickelt haben, weil sie auf Stücke, die sie spielen, eine individuelle Perspektive jenseits von Klang-Klischees oder kunstvoll kaschierter Ideenlosigkeit ausgebildet haben. Und die so dem Anspruch von Interpretation im Unterschied zu bloßer Reproduktion – so kunsthandwerklich ansprechend sie auch sein mag – gerecht werden.

 

Damit dieses Eigene/Individuelle entstehen kann, bedarf es als einem zentralen Element der Freiheit. Denn so wie ein Zuviel an Geführtwerden zu Abhängigkeit, Konformität, zur Kopie führt, kann echte Individualität nur auf dem Boden radikaler Freiheit erwachsen. Einer Freiheit, die nicht aus pädagogischen Erwägungen heraus begrenzt oder aufgrund von Misstrauen eingeschränkt, sondern die ungeteilt und vollständig ist. Nur in innerer Freiheit kann ein Mensch zu sich selbst finden, dazu, was ihn jenseits von vorgefertigten sozialen Rollen, standardisierten Denkschablonen, gesellschaftlichen Moralvorstellungen und psychologischen Zwängen des Über-Ich als Individuum ausmacht.

 

Und das ist doch genau das, was uns an Kunst anspricht, weswegen große Künstler und ihr Schaffen unser Interesse wecken: Weil sie unverwechselbar und unersetzbar, weil sie einmalig sind.

 

In diesem Zusammenhang ist es interessant sich vor Augen zu führen, dass alles, was wir heute als unser künstlerisches Erbe bezeichnen, einen innovativen, zuweilen revolutionären Kern hatte. Es wurde von mutigen Künstlerpersönlichkeiten geschaffen, die teilweise in krassem Widerspruch zur Tradition und mit viel Gegenwind von traditionsbesessenen Menschen ihre Vision verwirklicht haben. Hätten sie nicht die innere Stärke und den Mut gehabt, die zeitgenössischen Traditionalisten zu ignorieren und sich auf ihr Eigenes zu konzentrieren, wäre unsere Musikkultur um genau jene Werke ärmer, die wir heute so verehren. Fast alle zu unserer abendländischen Musiktradition gehörenden großen Kompositionen haben einen individuellen Charakter, tragen die Handschrift eines Subjektes, haben etwas mit Eigenheit und Eigenem zu tun, sind Ausdruck einer individuellen ästhetischen Haltung und Sicht.

 

Etwas „zu sagen“ zu haben, basiert zu einem Großteil darauf, dass man daran gewohnt ist, sich eigenständig eigene Gedanken zu machen. Und künstlerisch etwas zu sagen zu haben, basiert zu einem Großteil darauf, sich eigenständig auf die Suche nach eigenen künstlerischen Ausdrucksweisen zu machen. (Dass das „Eigene“ wesentlich aus einer Auseinandersetzung mit dem „Eigenen“ anderer Menschen resultiert, es somit immer auch eine Melange aus fremden Einflüssen, Adaptiertem, Übernommenem, Umgedeutetem und Neu-Kombiniertem ist und daher am besten in einem heterogen-diversifizierten sozialen Umfeld gedeiht, steht für mich außer Frage. Dies ist jedoch jene umgekehrte Seite derselben Medaille, die an anderem Ort diskutiert werden soll.)

 

Nun könnte man meinen, das hier Gesagte gelte eben nur für die wenigen großen Künstler, die ihr Leben ausschließlich dem Aufbau und der Pflege ihrer Expertise gewidmet haben, und entsprechend das Eigene, die individuelle klangliche Handschrift, sich als Folge dieser intensiven Beschäftigung quasi zwingend ergeben hat. Im Amateurbereich hingegen sei das Aufblühen des Eigenen aufgrund mangelnder Begabung und zeitlichem Investment gar nicht zu erwarten, sondern man müsse schon froh sein, wenn Hobbymusiker überhaupt einen halbwegs annehmbaren Klang aus ihren Instrumenten herauszuholen im Stande sind.

Apropos Handschrift: Obwohl Kinder einer Grundschulklasse alle auf dieselbe Art und Weise mit denselben Methoden und Medien das Schreiben beigebracht bekommen, bilden sie doch alle im Laufe der Jahre eine eigene unverwechselbare Handschrift aus, die nicht nur spezialisierte Graphologen, sondern jeder andere Mensch als solche Eigenheit erkennen kann. Und dies tun sie ganz von selbst, ohne dass jemand sie zu dieser Eigenheit „geführt“ oder angehalten hätte. Ist es nicht entsprechend auch vorstellbar, dass dieses Phänomen sich genauso auch im Musizieren als eigener Sound, als unverkennbares Klangsignum eines Individuums zeigt, so es denn von Anfang des instrumentalen Lernprozesses an unterstützt, zumindest im weiteren Verlauf nicht durch klangnormierende pädagogische Intervention unterdrückt wird? Kann das Finden des eigenen unverwechselbaren Sounds nicht zentraler Inhalt für alle Leistungsstufen des Musizierenlernens sein? Dazu jedenfalls bräuchte es Freiheit …

 

 

Bildung braucht Freiheit

Meiner Beobachtung nach wird bei pädagogischem Handeln, egal in welchem Kontext, ein enorm wichtiger Punkt fast immer übergangen: Ich kann als Lehrender nicht einfach meine eigenen Lernerfahrungen, meine Lernbiografie, meine Bildungsideale, mein Welt-, Menschen- und Selbstbild auf Schüler projizieren, ohne ihnen dabei den Status als Subjekt zu nehmen, sie letztlich zu entmenschlichen. Ich kann auch nicht mit Sicherheit wissen, was genau ein Schüler gerade braucht, um sich bestmöglich weiterzuentwickeln (spezifisches Wissen oder Können, gezielte geistige Anregungen und Impulse, bestimmte Übungen, Medien …). Auch kann ich nicht wissen, was der Andere will, kann ihm nicht Ziele unterstellen, nur weil ich sie selber habe.

 

Es hilft nichts: Ich muss diese zentral wichtigen individuellen Bildungsparameter im Dialog mit dem anderen Menschen in Erfahrung bringen und diese Erkenntnisse – mich konsequent an seinen Bedürfnissen orientierend – in gemeinsamen Bildungsversuchen anwenden. Um solche Lernsituationen herzustellen, müssen sich zwei innerlich weitgehend freie Personen in äußerer Freiheit begegnen. Dass dies nur selten der Fall ist (entweder sind die Personen durch neurotische Störungen und innerpsychische Konflikte unfrei, oder die äußere Freiheit wird durch pädagogische Zwangsinstrumente wie Prüfungen, einzuhaltende Curricula oder verordnete Lernziele eingeschränkt) heißt nicht, dass man nicht immer wieder neu Schritt für Schritt auf solche Bildungsprozesse hinarbeiten und nicht alles dafür tun sollte, Bildung in Freiheit an unseren Bildungsinstitutionen allmählich von einer Ausnahme zur Regel werden zu lassen. In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft haben wir meiner Ansicht nach sogar die Pflicht dazu! Hinaus läuft dieser Gedanke auf eine radikal dialogische Pädagogik, für die der Begriff „Pädagogik“ (pais= Knabe, agein= führen) gar nicht mehr passend erscheint, weil sie nicht auf Führung, sondern auf Begleitung basiert; und dies von beiden Seiten aus vollkommen freiwillig.

 

Sich selber in Bildungsprozesse zu begeben heißt zunächst herauszufinden, was man will, wofür genau man sich interessiert, welche Fähigkeiten man sich gerne aneignen, womit man sich über einen längeren Zeitraum hinweg auseinandersetzen möchte. Es gilt, jene Dinge zu finden und klar benennen zu können, an denen sich die eigene Neugier, das eigene Interesse, die eigene Begeisterung und Lust entzündet, damit die Grundlage für eine kraftvolle, andauernde, intrinsische Motivation sowie für ein Gefühl von Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns gewährleistet ist. Dieser für jedes nachhaltige Lernen so ungemein wichtige erste Schritt der Selbsterforschung wird leider häufig übersprungen, indem Lerninhalte external vorgegeben werden, ohne dass von den Lernenden ein entsprechender Bedarf artikuliert worden wäre. („Lehrer geben Antworten auf Fragen, die die Schüler nicht gestellt haben.“)

 

Auch hier gilt: Die unbestreitbare Tatsache, dass der Prozess der Erkundung des eigenen Lerninteresses, und mit ihm das Finden des Lerngegenstandes, ein Vorgang ist, der zuweilen Zeit kostet, der anstrengend ist und manchmal auch einem Stochern im Nebel gleicht, bedeutet nicht, dass man nicht alles dafür tun sollte, ihn mit jedem Schüler genauso wie für sich selbst immer wieder neu zu durchlaufen. Denn wenn einem nachhaltiges und vom Lernenden als sinnerfüllt erlebtes Lernen am Herzen liegt, gibt es dazu schlicht und ergreifend keine Alternative. (Die hier so explizit vorgenommene Betonung der Aspekte von Selbstinitiierung und Selbststeuerung in Bildungsprozessen bedeutet nicht, dass vom Lehrer keine Impulse mehr kommen sollen und er ausschließlich reaktiv auf das vorhandene oder eben nicht vorhandene Interesse des Schülers reagiert. Es geht darum, dass Unterricht erstens radikal als dialogischer Prozess gedacht und praktiziert wird, und zweitens Schüler sich von Beginn an darin üben, Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu übernehmen.)

 

Ein ähnliches Manko findet sich im klassisch orientierten Instrumentalunterricht, wenn ohne Berücksichtigung der Lieblingsmusiken oder gut bekannter, weil oft gehörter Stücke, ein fixes Curriculum von Werken oder auch nur eine Instrumentalschule Seite für Seite abgearbeitet wird. Diese Entfremdung des Schülers von seinen bisherigen musikalischen Erfahrungen (und entsprechend auch seinen vielleicht schon vorhandenen künstlerischen Interessen) kann innerhalb kurzer Zeit zu einer tiefreichenden Demotivation führen. Und dies zurecht: Wo unter dem Vorwand musikalischer Bildung echte, weil weitgehend selbstinitiierte und -gesteuerte Bildungsprozesse verhindert werden, sind aufkommende „Motivationsprobleme“ wichtige Signale und ein notwendiger Aufruf zur Veränderung der Situation.

  • Freiheit gewähren heißt, auf Machtausübung und euphemistisch als "Formung", "Führung" oder "Erziehung" bezeichnete Manipulation anderer Menschen zu verzichten. Anderen Freiheit zuzugestehen heißt, sie in ihrer Andersheit und letztlich in ihrem So-Sein zu akzeptieren. Erst wenn ich jemandem zugestehe, frei zu sein und ihn in seiner Entwicklung hin zur Freiheit bestärke, nehme ich ihn als Mensch ernst.
  • Freiheit gewähren heißt, anderen Verantwortung zuzumuten. Und wer sich Freiheit nimmt, erklärt sich implizit einverstanden damit, für sich und sein Handeln die volle Verantwortung zu übernehmen: Wenn ich eine Entscheidung in Freiheit treffe, kann ich nachher niemanden außer mich selbst für die Konsequenzen dieser Entscheidung verantwortlich machen. Freiheit ist somit immer untrennbar verbunden mit verantwortungsvoller Selbstsorge.
  • Freiheit ist also nicht leicht und geht keineswegs immer mit schnellem Spaß und Vergnügen einher. Freiheit bedeutet eben nicht „Ich kann tun, was immer mir spontan in den Sinn kommt, ohne mich um die Konsequenzen meines Handelns zu kümmern“. Sondern Freiheit ist eine Herausforderung, eine Zumutung, der man gewachsen sein muss, in die man hineinwachsen muss und die das Leben in bestimmten Situationen nicht leichter macht. Doch gibt es zu ihr in einer aufgeklärten Gesellschaft, die den Wert und die Würde des einzelnen Menschen achtet, die das Individuum und mit ihm das Individuelle ins Zentrum rückt, keine Alternative.

 

Fazit

Wenn wir also eine Musikschule als einen Lernort auffassen, wo Menschen sich in intensiven Bildungsprozessen künstlerisches Handeln aneignen und so selber Kunst hervorbringen, müssen wir Freiheit ins Zentrum dieses Ortes stellen und zugleich Antworten auf die Frage suchen, wie diese Freiheit genau aussehen kann, wie nach freiheitlichen Grundsätzen gestaltete pädagogische Räume geschaffen werden können, und wie dort Freiheit in Beziehung zu Verantwortung, Selbstdisziplin, Motivation und Vertrauen steht.

 

Wir Pädagogen sind nicht dazu da, Menschen zu formen. Wir sind – quasi als Geburtshelfer – dazu da, dass Menschen sich ihren Wünschen und Möglichkeiten entsprechend bestmöglich selber formen. Denn das ist Bildung. Und um sich selber formen zu können, braucht man Freiheit.